Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia. Страница 18
Jonathan schloss die Augen und betete. Er betete zu dem Gott, der verloren gegangen war. Er betete: Naturlich gibt es dich nicht, und es hat dich nicht gegeben, aber hilf uns. Jose glaubt an dich, und er liegt unter Deck und schlaft, und vielleicht wacht er davon auf, dass die Mariposa sinkt. Lass ein Wunder geschehen! Nimm den Wind weg! Tu, was du fur richtig haltst, aber tu etwas!
Als er »etwas!« dachte, erhob sich uber Jonathan ein ohrenbetaubendes Geknatter, und zuerst dachte er, es ware Gewehrfeuer. Aber es konnte kein Gewehrfeuer sein, hier, mitten auf dem Pazifik, nicht wahr? Er merkte, dass die Mariposa wieder gerade lag. Sie wurde noch immer von den Wellen hin und her geworfen, doch er rutschte nicht mehr auf ihrem Deck nach unten. Er sah auf, dorthin, woher das Knattern kam. Es waren die Segel. Beide Segel schlugen jetzt wild hin und her. Jonathan spurte, dass der Wind von vorn kam. Die Mariposa hatte ihre Nase in den Wind gedreht. Er zog sich am Mast hoch, griff wieder ins Segel – und diesmal, ohne den Druck des Windes, lie? es sich herunterziehen, Stuck fur Stuck. Die Fock, das Vorsegel, lie? sich mittels eines Seils um das Vorstagsegel wickeln, um jenes Drahtseil, das die Mastspitze mit dem Bug verband. Aber er wusste nicht, mittels welchen Seils. So drehte er das Vorstag-segel mit den Handen, bis sich die Fock ganz darumgerollt hatte. Er fand ein Bandsel, wickelte es drum herum und verknotete es, damit sie sich nicht wieder ausrollen konnte. Dann atmete er tief durch und lie? sich aufs Deck fallen. Einen Moment sa? er einfach nur so da.
Und dann horte Jonathan durch das Prasseln des Regens hindurch ein anderes Gerausch, und er merkte, dass der Wind nicht mehr von vorn kam. Das Gerausch war das des Motors. Hatte er vorhin am Anlasser gezogen?
Er sah nach hinten, und dort stand jemand am Steuer, ein Schemen zwischen Regen und Dunkelheit. Jose war aufgewacht. Ein Gluck!
»Was muss ich mit dem Gro?segel tun?«, rief Jonathan. Das Segel lag in unordentlichen Falten auf dem Baum, in die der Wind wieder hineinfuhr. Er erinnerte sich daran, dass Jose es beim Ankern ebenfalls mit einem Tau umwickelt hatte. Doch Jose schien seine Frage nicht gehort zu haben. Jonathan schnappte sich das erstbeste Tau und schlang es um Segel und Baum. Vorerst wurde es halten. Seine Knie zitterten, als er an der Kajute vorbei zuruck zum Heck kletterte. Er musste auf jeden Schritt achten, um nicht danebenzutreten und noch einmal zu sturzen.
Erst als er ganz hinten war, sah er auf. Das Steuerruder stand festgehakt, wie er es verlassen hatte. Jose war nirgends zu sehen. War er uberhaupt da gewesen? Auf einmal kam es Jonathan vor, als ware die Person, die er am Steuer gesehen hatte, gro?er gewesen als Jose. Kein Junge: ein Mann. Ein Mann, dem die Kleider gepasst hatten, die jetzt, getrankt vom Regen, an Jonathans zu schmachtigem Korper klebten.
Ein Toter.
Was hatte Jose gemurmelt, halb im Traum schon? »Casaflora bewacht die Mariposa noch nach seinem Tod.« Wer war dieser Casaflora gewesen? Liebte er die Mariposa wirklich so sehr, dass er sie nicht verlassen konnte? Oder gab es etwas anderes an Bord, das er bewachte?
»Unsinn«, flusterte Jonathan. »Fange ich etwa an, daran zu glauben, dass ein Geist hier an Bord umgeht? Die Mariposa hat ganz allein ihren Kurs geandert, es lag am Wind. Und am Anlasser des Motors muss ich selbst gezogen haben. Ich war nur durcheinander.«
Zitternd hockte er sich neben das Steuer. Jetzt gab es wirklich keine trockenen Sachen mehr an Bord. Die Nacht war lang, und die Mariposa warf sich gegen die Wogen des offenen Meeres an wie ein trotziges, winziges Kind. Jonathan kampfte mit dem Schlaf.
Als endlich die Sonne aufzog, fanden seine muden Augen am Horizont einen kleinen Punkt, der ein Schiff hatte sein konnen, das ihnen folgte. Von dorther kamen ein paar Mowen angesegelt, umkreisten die Mariposa eine Weile, merkten, dass es hier nichts zu holen gab, und strichen wieder davon. Eine der Mowen lie? etwas fallen, und erst dachte Jonathan, sie hatte einen erbeuteten Fisch verloren. Doch was er kurz darauf aus dem Wasser fischte, war ein Stuck braunen, zotteligen Stoffs. Vermutlich hatte die Mowe gerade erst gemerkt, dass man es nicht essen konnte. Jonathan sah sich das Stoffstuck genauer an. Es war kein Stoffstuck. Es war ein kleiner alter Teddybar. Ein Bar, den Jonathan kannte. Zuletzt hatte er ihn auf der Isabelita gesehen, bei Waterwegs Gepack. Dem Baren fehlte etwas. Eine rote Schleife. Sie befand sich in seiner Hosentasche.
Julias Bar.
Wie kam er hierher?
Lied der Delfine
Siehst du uns unter den Wogen liegen?
Siehst du, wie wir uns im Wasser wiegen?
Wir sind es, die dich riefen.
Sieh, wie wir schweben, sieh, wie wir fliegen!
Wir sind die Vogel der Tiefen.
Der Sinn dieses Lebens? Ach, frag nicht so viel,
es ist nur ein Spiel, ist alles ein Spiel.
Das Leben ist leicht, das Leben ist schon,
man braucht es nicht zu verstehn.
Siehst du uns auf den Wogen reiten?
Jenseits der Zeit und der Gezeiten,
mitten durch blauliche Leere?
Sieh, wie wir kreisen, sieh, wie wir gleiten!
Wir sind die Tanzer der Meere.
Die Antwort? Die Wahrheit? Ach, frag nicht so viel,
es ist nur ein Spiel, ist alles ein Spiel.
Horst du uns schnattern? Horst du uns singen?
Siehst du uns lachen? Siehst du uns springen?
Von Lee nach Luv und von Luv nach Lee.
Wir gaukeln gleich schwimmenden Schmetterlingen.
Wir sind die Kinder der See.
Das Ziel? Unser Ziel? Ach, frag nicht so viel …
Wir haben noch keinem ein Leid getan,
wir sind die Clowns im Ozean,
wir sind die Boten vom Horizont,
wo sich der Mond im Abendlicht sonnt.
Komm mit uns, komm! Denn angesichts
dieser Welt ist es besser, du folgst uns ins Nichts.
Dann fragst du nicht mehr, fragst nicht mehr zu viel,
dann begreifst du endlich das Spiel.
Mentira y verdad
Luge und Wahrheit
J ose!,sagte die Abuelita. Wach endlich auf! Es ist hochste Zeit! Du hast alles verschlafen, mein Junge: Die Unaussprechlichen haben den Wind starker gemacht. Die Hand eines Toten hat die Mariposa gelenkt, und an der Horizontlinie hangt ein Schiff, das einen auffallend ahnlichen Kurs segelt wie ihr. Obwohl es nicht das Schiff ist, dessen Taue Jonathan gekappt hat. Und es hat geregnet …
»Geregnet?«, fragte Jose laut. Er horte etwas zuschlagen wie eine Tur oder eine Klappe, ganz nah, und setzte sich abrupt auf. Nein, die Kajutentur stand offen – ein wenig Sonnenlicht fiel auf den Boden und beleuchtete eine einzelne rosafarbene Flamingofeder.
Der zugehorige Flamingo schien sich drau?en zu befinden, denn Jose sah einen Flamingofu? auf der Treppe. Er stand auf und stie? die Tur ganz auf. Der Flamingo stand tatsachlich auf der untersten Stufe, hatte den langen Hals gestreckt und den Kopf bequem auf die Decksplanken oberhalb der kleinen Treppe gelegt. So befand sich sein Kopf auf Hohe von Carmen, die dort auf dem Fu?boden sa?. Die beiden sahen aus, als waren sie in ein stummes Zwiegesprach vertieft. Hinter ihnen sa? Jonathan am Steuer, auf dem Scho? Oskar, den Pinguin.
Jose schuttelte den Kopf. »Ich wache auf und bin in einem wahnsinnigen Zoo«, sagte er.
Jonathan zuckte zusammen und fuhr hoch. »Jose«, sagte er. »Ich muss eingenickt sein.«
»Es hat geregnet«, sagte Jose, »nicht wahr? Hast du das Wasser in einem Kanister aufgefangen?«
Jonathan sah ihn an. »Das Wasser … in einem Kanister?«