Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia. Страница 30

»Wo ist sie jetzt?«, fragte Casaflora leise.

»Tot«, antwortete Marit. »Sie sind alle tot. Alle, die ich in Deutschland kannte.« Sie flusterte jetzt, damit Jose sie unter Deck nicht horte. »Sie sind Deutscher. Warum sind Sie nicht tot?« Es war ein eindeutiger Vorwurf. Er lachte nicht daruber.

»Weil ich hier bin«, erwiderte er ernst. »Genau wie du.«

Marit streichelte den Albatros, der seinen gro?en wei?en Kopf auf ihr Knie gebettet hatte. »Hier ist niemand tot. Hier sind alle lebendig. All die Tiere. So wie Kurt.«

»Warum hei?t er eigentlich Kurt?«

»Kurt war der Name meines Vaters. Er ist auch geflogen. Sie haben gesagt, man habe seine Maschine bei der Landung abgeschossen. Albatrosse haben manchmal auch Unfalle beim Landen …«

Casaflora schwieg. Er schwieg so lange, dass die Nacht zu schwer fur Marits Augenlider wurde.

»Ich kannte einmal ein junges Madchen, das einen Kurt heiratete«, sagte Casaflora. »Und aufhorte zu studieren. Damals in …«, er lachelte auf einmal, doch es war ein trauriges Lacheln, »… London.« Aber das horte Marit schon nicht mehr, denn sie war eingeschlafen.

Und erst spater, viel, viel spater, ubersetzte sie seinen Namen ins Deutsche.

Jose wachte gegen Morgen auf und spurte sofort, dass er allein in der Kajute lag. Casaflora hatte auf der zweiten Bank liegen sollen. Marit sa? drau?en am Steuer. Er packte die Mauser und offnete leise die Tur der Kajute.

Im grauen, verschlafenen Morgenlicht sa? Casaflora am Steuer.

Er hatte ihn noch nicht bemerkt. Er war uber eine Gestalt gebeugt, die auf der anderen Bank lag, schlafend. Hilflos. In ihrem Arm lag Kurt der Albatros, der ebenfalls schlief. Casaflora knopfte seine Jacke auf und zog sie aus. Jose packte sein Gewehr fester. Da sah er, wie Casaflora die Jacke behutsam uber Marit legte: eine Decke gegen die Kalte des zu jungen Morgens. Er blickte auf und nickte Jose zu. Sein Gesicht sah aus, als waren in Minuten Jahrzehnte daran vorbeigestrichen. Er war nichts als ein muder alter Mann.

»Sie ist tot«, sagte er.

»Was? Wer?«, fragte Jose alarmiert.

»Ihre Mutter«, sagte Casaflora. »Sie war so jung und sie wollte so viel. Sie wollte ihre Familie ins Paradies fuhren. Sie wollte einen blauen Schmetterling fangen, mit goldenen Flecken auf den Flugeln. Fur jemanden, der ihr Vorbild war und der vielleicht auch nicht mehr am Leben ist. Ist das nicht unbeschreiblich traurig?«

Jose nickte. »Ja«, sagte er, »das ist unbeschreiblich traurig. Aber wir, wir sind alle hier und wir sind am Leben.«

»Noch«, sagte Casaflora. »Noch, mein Junge, noch. Wart ab, bis uns die wiederfinden, die uns im Sturm verloren haben.«

»Wer sind Sie?«, fragte Jose. »Wozu wollen Sie meine Karte?«

Casaflora griff in seine Jackentasche und holte ein zusammengefaltetes Stuck Papier heraus. »Deine Karte, ja«, sagte er. »Du kannst sie wiederhaben, deine Karte. Ich werde nicht schlau daraus. Vielleicht ist sie wirklich alt. Aber die, die hinter uns her sind – sie wollen deine Karte nicht.«

»Nein?«, fragte Jose erstaunt.

»Nein, mein Junge. Ich habe auch eine Karte. Sie wollen meine. Besser gesagt: Sie wollen, dass sie nicht in die Hande von bestimmten anderen Leuten gerat.«

Jose offnete den Mund.

»Und jetzt hor auf, Fragen zu stellen«, sagte Casaflora sehr bestimmt. »Schie? mir ein Loch in den Kopf, aber ich schweige. Manche Antworten sind zu gefahrlich.«

In diesem Moment lief ein Ruck durch die Mariposa, und Jose hielt sich an der Kajutentur fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Marit rollte von der Bank und Casaflora krallte sich ans Steuer. Die Mariposa bewegte sich nicht mehr. Doch der Wind fullte die Segel noch immer und das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite.

»Wir sitzen fest!«, schrie Casaflora und sprang auf. »Wir sitzen auf einem verfluchten Felsen fest! Los! Die Segel runter! Schnell!«

Jose war bereits am Mast und loste das reparierte Gro?fall. Direkt vor ihnen lag im Morgendunst Marchena, als flach ansteigender Krater erhob sich die Insel aus dem Pazifik und wartete in majestatischem Schweigen auf die Neuankommlinge. Aber nein, sie schwieg gar nicht: Jetzt horte Jose die Vogel, die schon mit dem ersten Tageslicht erwacht waren. Jetzt horte er den Wind im Geast der Busche. Er schuttelte den Kopf. All das hatten sie vorher horen konnen. Sie hatten so lange darauf gewartet, Marchena zu erreichen, und nun hatten sie es zu spat bemerkt. Casaflora, der am Steuer gesessen hatte – er musste die Insel doch gesehen haben! Aber er hatte nicht so gewirkt, als wurde er irgendetwas sehen, dachte Jose.

Sein Blick war seltsam weit fort gewesen, als er »Sie ist tot« gesagt hatte.

Der Motor sprang knatternd an und die Mariposa bewegte sich langsam ruckwarts. Dann gab es einen erneuten Ruck und er landete unsanft auf dem Deck. Casaflora fluchte.

»Der Motor!«, schrie er. »Die Schraube ist gegen einen Felsen … Verdammtnoch mal! Roll die Fock wieder aus!«

Jose gehorchte. Der Motor gab ein seltsames Jaulen von sich, und er begriff, dass die Schraube sich nicht mehr richtig drehte. Casaflora steuerte die Mariposa nur unter Vorsegel ein Stuck naher an die Insel heran, unaufhorlich fluchend.

»Hier sind uberall Felsen unter Wasser«, horte Jose ihn sagen. »Ich kann sie jetzt sehen, aber nicht gut genug … Wenn wir gleich wieder aufsitzen …« Dann fluchte er wieder, diesmal nicht auf Spanisch, sondern in einer Sprache, die Jose nicht verstand. Sie klang hart und kantig, abgehackt und rau. Jose hatte diese Sprache schon gehort. Und schlie?lich fiel ihm auch ein, wo. Im amerikanischen Radio auf Baltra. Es war die Sprache des Krieges. Deutsch. Und die Sprache, in der einer flucht, dachte Jose, ist seine Muttersprache.

Casaflora war trotz seines Namens, trotz seiner sonnenverbrannten Haut und seines perfekten Spanisch kein Ecuadorianer. Er war ein Deutscher.

Marit erwachte davon, dass sie auf den harten Planken des Decks landete. Auf der Mariposa war wieder einmal Chaos ausgebrochen, aber sie verstand nicht, weshalb. Der Himmel uber ihr war blau und wolkenlos. Sie kam auf die Fu?e und blickte sich um.

Und da sah sie die Insel. Marchena. Es war nur ein Umriss im Morgen, ein klobiger Berg aus Steinen im Meer, aber Marit erschien Marchena als das Schonste, was sie je gesehen hatte. Endlich wieder Land, nach so vielen Tagen auf See! Die Insel war aus einem Vulkan entstanden wie alle Galapagosinseln, doch der Vulkan schlief seit Langem.

Sie merkte, dass Jose mit ihr redete. »… sind aufgelaufen«, erklarte er mit gequaltem Gesicht. »Und die Schiffsschraube ist hinuber. Es gibt eine Menge Felsen unter Wasser. Wir ankern hier, und Casaflora baut den Motor aus und … Du horst uberhaupt nicht zu.«

Marit lachelte ihn an. Dann zeigte sie ins Meer.

»Sieh nur, Jose«, sagte sie, »wer von Marchena gekommen ist, um uns zu begru?en.«

Das Wasser zwischen dem Strand und der Insel war voll von Kopfen – nassen schwarzen Kopfen mit winzigen Ohren, glanzenden Knopfaugen und langen, zitternden Schnurrhaaren. Sie kamen naher, neugierig wie die Delfine, und Marit sah, wie ein rotes Maul spielerisch nach einem blauen Schmetterling schnappte, der dicht uber der Wasseroberflache dahingaukelte. Hatte der Schmetterling goldene Flecken auf den Flugeln gehabt?

»Seelowen«, sagte Jose und lachelte.

»Ein schones Empfangskomitee fur die Mannschaft eines funktionsuntuchtigen Schiffs«, knurrte Casaflora, halb uber den Motor gebeugt. »Ich wunschte, ich konnte einen von ihnen uberreden, den Motor an den Strand zu schleppen. Ich wei? nicht, ob ich das Werkzeug dazu habe, die Schraube auszubauen …« Er sah auf. »Was ist? Wollt ihr nicht an Land gehen?«

»Damit Sie mit der Mariposa abhauen und uns hier verdursten lassen?«, fragte Jose.

Casaflora seufzte. »Ich kann nicht mit der Mariposa abhauen, mein Junge. Der Motor ist hinuber. Begreifst du das nicht?«