Die geheime Reise der Mariposa - Michaelis Antonia. Страница 50
Marit wanderte eine ganze Weile durch die Hitze und ihr Mund klebte vom Saft der Orangen. Der Durst kam schneller wieder, als sie gedacht hatte. Bald, dachte Marit, bald ist die Regenzeit endgultig zu Ende und irgendwann wird es keine Orangen mehr geben.
»Dir reicht der Tau auf den Blattern«, sagte sie zu Carmen, die als Einzige bei ihr geblieben war und in ihrem Armel sa?. »Aber wir werden jammerlich vor die Hunde gehen. Und es gibt noch nicht mal Hunde hier.« Sie lie? sich resigniert in den Sand fallen. »Es gibt auch keine Spitze von irgendetwas, die aus dem Meer ragt.« In diesem Moment kam etwas aus dem Wasser und robbte auf sie zu.
»Chispa?«, fragte Marit.
Anstelle einer Antwort schnappte die Seelowin Marit die Mutze vom Kopf und robbte damit wieder zum Wasser zuruck.
»He!«, rief Marit und sprang auf. »Warte! Gib die Mutze her!«
Chispa drehte sich um. »Hol sie doch!«, schien sie zu sagen. »Na los! Du dachtest, ich hatte euch verlassen, aber ich bin zuruckgekommen, um mit dir zu spielen.«
Jetzt entdeckte Marit die anderen Seelowen im Wasser, und sie sah hilflos zu, wie sie begannen, ihre Mutze hin und her zu werfen. Schlie?lich schwammen sie mit der Mutze zwischen den Zahnen vom Strand weg, albern wie kleine Kinder.
»Nein!«, rief Marit. »Jetzt ist das Spiel zu Ende! Kommt zuruck!«
Sie streifte ihre Sachen ab, horte Carmen im Hemdsarmel emport quieken und rannte den Seelowen nach, ins Wasser hinein. Es war wunderbar kuhl nach der brennenden Sonne. Doch Marit dachte nicht an die Kuhle. Sie musste die Seelowen einholen. Sie hatten den einzigen Gegenstand, der sie mit der Vergangenheit verband. Plotzlich erschien es ihr, als ware diese alte Schiebermutze das Wichtigste im Leben. Als konnte sie ohne die Mutze niemals herausfinden, wie die seltsamen Stucke ihrer Erinnerung zusammenhingen und welches Geheimnis sie verbargen. Denn etwasverbargen sie, da war Marit sich inzwischen sicher.
Sie sah die Seelowen untertauchen – und da tauchte auch sie. Unter ihr lag ein Labyrinth aus zerklufteten Felsen, bewachsen mit Korallen und mit Algenwaldern, die in den Wellen hin und her schaukelten. Bunte Fische schossen dazwischen umher, schwebten reglos im Wasser, schlangelten sich als glanzende Streifen durch das Algengrun … und dann sah sie das Schiff zwischen den Klippen. Es war nur noch die Erinnerung an ein Schiff: ein Grab aus Balken, Tauen und Brettern. Es war um ein Vielfaches gro?er als die Mariposa, doch es teilte ihr Schicksal. Marit tauchte auf, um Luft zu holen. Joses Urgro?vater fiel ihr ein, der Abuelito, der zur Isla Maldita gefahren und nie zuruckgekehrt war. War dies sein Schiff gewesen? Oder das Schiff eines anderen Seefahrers, das auf die Klippen aufgelaufen und gesunken war, in lacherlich geringer Entfernung zum Land?
Es war schwer zu glauben, aber Marit wusste, dass eine Menge der Seeleute damals nicht hatten schwimmen konnen. Irgendwo hier hatte jemand um sein Leben gekampft und vielleicht verloren. Und sie machte sich Sorgen um eine dumme Mutze.
Sie sah sich nach den Seelowen um, und da waren sie, verspielt wie zuvor. Marit folgte ihnen in einem weiten Bogen zuruck an Land. Dort lie? einer von ihnen Marits Mutze in den Sand fallen. Sie hatte sich die ganze Muhe sparen konnen.
Aber als sie die Mutze auswrang, wusste sie es plotzlich. Sie wusste, was die Spitze bedeutete, die auf Joses Karte aus dem Wasser ragte. Das gesunkene Schiff war lange gesunken, ehe Joses Gro?vater die Isla Maldita erreicht hatte. Es war schon gesunken, ehe die Karte gezeichnet worden war. Damals hatte das Wrack noch aus den Wellen geragt.
Hier, genau hier begann der Weg zum schwarzen Kreuz auf Joses Karte.
»Bist du sicher, dass es hier war?«, fragte Jose zwei Stunden spater.
Marit nickte. »Aber schwimm ruhig raus und sieh dir die Reste des Wracks selbst an.«
Er schuttelte den Kopf. »Lass uns lieber die Reste des Weges finden.«
Sie gingen von der Stelle aus, an der Marit das gesunkene Schiff entdeckt hatte, auf einer moglichst geraden Linie landeinwarts. Dort, wo die niedrigen Busche begannen, sa? eine stumme Riesenschildkrote. Sie hatte Kopf und Beine eingezogen und schien zu schlafen.
»Vielleicht ist das ein Zeichen«, meinte Jose mit einem nervosen Lachen. »Sie bewacht den Anfang des Weges.«
Marit kniete sich hin und sah sich die Schildkrote genauer an. »Der Panzer ist leer«, sagte sie. »Diese Schildkrote ist seit Jahren tot. Oder seit Jahrzehnten. Vielleicht ist es tatsachlich ein Zeichen.«
Jose hielt sich die Karte dicht vor die Augen. »Hier steht eine Zahl. Zweihundert. Nach der Zahl biegt der Weg links ab. Zweihundert Meter?«
»Wer auch immer die Karte gemalt hat«, sagte Marit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit einem Ma?band unterwegs war. Versuchen wir es mit zweihundert Schritten.«
Sie kam sich lacherlich vor, wahrend sie sich laut zahlend mit Jose durchs Gebusch kampfte. Bunte Vogel flogen kreischend auf, gelbe Landleguane verschwanden raschelnd im Unterholz.
»Sie mussen uns fur vollig verruckt halten«, murmelte Marit. »Hundertneunundneunzig … zweihundert. Hier mussen wir abbiegen. Ist hier irgendetwas? Etwas, das die Abbiegung kennzeichnet?
Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. Zweihundert Schritte waren nicht das Gleiche wie zweihundert Schritte. Sie konnten sich in der Schrittlange geirrt haben. Oder ein wenig von der Richtung abgewichen sein …
»Da!«, sagte Jose. Marit folgte seinem Blick.
Ein Stuck entfernt lag ein weiterer Schildkrotenpanzer. Und sie brauchte sich nicht davorzuknien, um zu wissen, dass er leer war. Sie bogen bei dem Panzer nach links ab, der Boden stieg jetzt an und eine weitere winzig hingekritzelte Zahl schickte sie mehrere Hundert Schritte aufwarts. Dort gab es noch einen Panzer, noch eine Zahl … und endlich fuhrte die Karte sie zwischen glatten, abschussigen Felsen hinauf. Der Weg mit seinen Biegungen ergab einen Sinn, zur Rechten und zur Linken hatte es keine Moglichkeit gegeben weiterzukommen.
»Jemand hat sich eine Menge Muhe gemacht, diesen Weg zu kennzeichnen«, flusterte Jose. »Aber es ist keine besonders unauffallige Kennzeichnung.«
»Nein«, sagte Marit nachdenklich. »Und keine besonders nette. Er hat eine Menge Schildkroten getotet.«
Sie wanderten schweigend von Panzer zu Panzer, es war, als besuchte man einen Schildkrotenfriedhof, weit verteilt uber die Insel. Sie wanderten lange, lange. Der Wald umschloss sie jetzt von allen Seiten mit seinen dichten grunen Mauern, Lianen woben sich ins Unterholz und gro?e wei?e und violette Bluten verstromten ihren Duft in schwindelnder Hohe. Die Sonne brannte nicht mehr auf sie herab, doch die Luft stand still und feuchtwarm zwischen den Stammen. Marit sah auf ihre nackten Fu?e, die Joses Fu?en durchs Unterholz folgten, weiter und weiter … und schlie?lich, nach einer Ewigkeit, blieben diese Fu?e stehen.
»Sieh nur!«, sagte Jose. »Hier sind auf der Karte zwei Kringel. Ich dachte, es waren die Nullen einer Zahl. Aber es sind keine Nullen.«
Marit hob den Kopf: Zur Linken des Weges klafften zwei annahernd runde schwarze Locher im Fels.
»Hohlen«, sagte Jose. »Piratenhohlen.«
Sie nickte. Ihre Augen vermochten das schwarze Dunkel in den Hohlen nicht zu durchdringen. Ein muffiger, dumpfer Geruch stromte ihnen von dort entgegen, der Geruch von Erde und Kalte und Vergangenem.
»Ein guter Unterschlupf«, sagte Jose. »Man hatte ein Dach uber dem Kopf. Und schau, da steht ein Guavenbaum.«
Marit nahm die runde grune Frucht, die er ihr reichte: eine Guave. Sie hatte noch nie eine Guave gegessen. Die dunkelgrune Kugel verstromte einen seltsam heimeligen Geruch nach Gallseife und Kiefernwald. Marit biss hinein. Sie schmeckte auch nach Gallseife und Kiefernwald. Sie a? sie dennoch, dankbar fur die wenige Flussigkeit in ihrem festen grunen Fleisch. Und dann entdeckte sie eine Nische in der Wand der ersten Hohle, mit grobem Werkzeug vor langer, langer Zeit behauen: eine kuhle steinerne Bank.