Zerfetzte Flaggen: Leutnant Richard Bolitho in der Karibik - Kent Alexander. Страница 28

Gefolgt von einem Trupp bewaffneter Seeleute, ging Bolitho langsam an einigen von der Sonne gebleichten Holzgebauden entlang, wobei sie sich vorsichtigerweise dicht an den Wanden hielten, um nicht von oben — absichtlich oder unabsichtlich — mit Unrat beworfen zu werden.

Er horte Stockdales keuchenden Atem und das gelegentliche Klirren von Waffen, als sie jetzt zur Hauptanlegebrucke kamen. Menschen waren kaum zu sehen, obwohl hinter den geschlossenen Fensterladen Musik und grolende oder fluchende Stimmen zu horen waren.

Ein Haus hob sich dunkel gegen das stromende Wasser ab, vor der Tur standen Marinesoldaten Posten, und ein Unteroffizier ging auf und ab.

«Halt, wer da?»

«Offizier der Wache!»

«Ihren Ausweis!»

Es war immer dasselbe, obwohl die Marineinfanteristen die me i-sten Flottenoffiziere vom Sehen kannten.

Der Unteroffizier stand stramm.»Zwei Leute von der Vanquis-her, Sir. Betrunken und streitsuchtig.»

Bolitho ging durch ein paar Turen in eine gro?ere Wachstube. Das Gebaude war einmal der Stadtsitz eines Teehandlers gewesen. Nun residierte die Marine darin.

«Sie scheinen sich jetzt ruhig zu verhalten, Sergeant.»

Der Unteroffizier grinste.»Aye, Sir, jetzt. «Er zeigte auf zwei schlaffe Korper in Eisen.»Wir mu?ten sie erst beruhigen.»

Bolitho setzte sich an einen zerkratzten Tisch und lauschte auf die Gerausche drau?en — das Rattern von Radern auf dem KopfSteinpflaster, das gelegentliche Kreischen einer Hure. Er blickte auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Noch vier Stunden! In solchen Situationen sehnte er sich nach der Trojan, wenn er auch kurz vorher noch gewunscht hatte, frei von ihrer Routine zu sein.

Als die Flotte seinerzeit vor Staten Island angekommen war, hatte jemand diese Ansammlung von Schiffen als» schwimmendes London «beschrieben. Jetzt war dies schon zu selbstverstandlich geworden, um noch erwahnt zu werden. Bolitho hatte zwei ihm fluchtig bekannte Offiziere von einer der Fregatten gesehen und ein paar Worte ihrer Unterhaltung aufgeschnappt, als sie in einem Spielsalon verschwanden.

. Auslaufen mit der Ebbe, nach Antigua mit Kurierpost. Was es doch bedeutete, frei zu sein, von diesem schwimmenden Durcheinander hier wegzukommen!

Der Unteroffizier erschien wieder und betrachtete ihn zweifelnd.»Ich habe einen Spitzel drau?en, Sir. «Er deutete mit dem Daumen zur Tur.»Kenne ihn schon langer, ein Gauner, aber zuverlassig. Er behauptet, ein paar Leute seien von der Brigg Diamond desertiert, kurz bevor sie vorgestern auslief.»

Bolitho stand auf und griff nach seinem Dolch.»Was hat die Diamond hier gemacht?»

Der Unteroffizier grinste breit.»Keine Sorge, Sir. Sie hatte keinen Freibrief, brachte nur Stuckgut von London.»

Bolitho nickte. Eine englische Brigg, das verhie? erfahrene Seeleute, Deserteure oder nicht.

«Bringen Sie den — ah — Spitzel herein.»

Der Mann war typisch fur sein Gewerbe: klein, schmierig, hinterhaltig. Sie waren in allen Hafen der Welt gleich, diese Besitzer von Absteigequartieren, die an die Pre?kommandos Informationen uber Seeleute verkauften, die angeblich greifbar waren.

«Nun?»

Der Mann jammerte:»Es ist doch nur meine Pflicht, Sir, des Konigs Marine zu helfen.»

Bolitho musterte ihn kalt. Der Schurke sprach noch immer den Dialekt der Londoner Slums.»Wie viele?»

«Sechs, Sir!«Seine Augen glitzerten.»Feine, kraftige Kerle allesamt.»

Der Unteroffizier bemerkte beilaufig:»Sie stecken in Lucys Haus. «Er zog eine Grimasse.»Vermutlich inzwischen mit Syphilisblattern bis uber die Augen besat.»

«Lassen Sie meine Leute antreten, Sergeant. «Bolitho versuchte, nicht an die dadurch entstehende Verzogerung zu denken. Wahrscheinlich wurde es nichts mehr mit Schlaf.

Der Gauner lie? sich vernehmen:»Kommen wir ins Geschaft,

Sir?»

«Nein. Du wartest hier. Kriegen wir die Leute, bekommst du dein Geld. Wenn nicht — «, er blinzelte den grinsenden Marineinfanteristen zu — ,»gibt es eine Tracht Prugel.»

Er trat hinaus in die Nacht und verfluchte insgeheim sowohl den Seelenverkaufer wie uberhaupt diese erbarmliche Methode, Seeleute zu pressen. Trotz der Harte des Bordlebens meldeten sich viele Freiwillige, jedoch niemals genug, um die Verluste durch Tod oder Verwundung auszugleichen.

Stockdale fragte:»Wohin, Sir?»

«Zu Lucys Haus, dem Bordell.»

Einer der Seeleute kicherte.»Ich kenne es, Sir, bin schon dort gewesen.«»Dann fuhren Sie uns, vorwarts!»

Als sie in der engen, abschussigen und ubelriechenden Gasse angekommen waren, teilte Bolitho seinen Trupp in zwei Gruppen. Die meisten Leute der Stammbesatzung hatten schon an ahnlichen Aktionen teilgenommen, und selbst die gepre?ten Leute machten mit, sobald sie sich einmal an ihr neues Leben gewohnt hatten. Wenn ich dienen mu?, warum nicht auch du? Dies schien ihre Maxime zu sein.

Stockdale war auf der Ruckseite des Hauses verschwunden; das Messer hatte er im Gurtel stecken lassen und statt dessen einen Knuppel in der Hand.

Bolitho starrte auf die verschlossene Tur, hinter der er Stimmengewirr und trunkenen Gesang horte. Er wartete noch ein wenig, dann zog er seinen Dolch und schlug mehrmals mit dem Knauf gegen die Tur, wobei er mit lauter Stimme rief:»Im Namen des Konigs — offnet!»

Drinnen horte man Getrappel und unterdruckte Schreie, das Splittern von Glas und einen schweren Fall, als sei jemand, der zu fliehen versuchte, von Stockdales Knuppel getroffen worden.

Plotzlich sprang die Tur auf, aber an Stelle der erwarteten Menschenmenge sah sich Bolitho einer Riesin gegenuber, vermutlich der beruchtigten Lucy. Sie war so gro? und breit wie ein Seebar und benutzte auch dieselben unflatigen Ausdrucke, als sie jetzt drohend die Faust erhob.

Lichter flammten ringsum auf, und aus den Fenstern beugten sich

Gestalten, die gierig auf die Szene herabstarrten und sehen wollten, wie Lucy die Marine in die Flucht schlug.

«Du pickeliger, gruner Lausejunge, wie kannst du behaupten, ich hatte hier Deserteure versteckt?«Sie stemmte die Arme in die Huften und funkelte Bolitho wutend an.

Andere Frauen, einige halbnackt, hasteten die wackelige Treppe im Hintergrund herunter, um zu sehen, was sich abspielte. Ihre bemalten Gesichter gluhten vor Aufregung.

«Ich tue meine Pflicht. «Bolitho widerte das hohnische und verachtliche Benehmen der Frau an.

Stockdale tauchte mit grimmiger Miene hinter ihr auf und keuchte:»Wir haben sie, Sir: Sechs, wie er gesagt hat.»

Bolitho nickte. Stockdale hatte also den hinteren Ausgang gefunden.

«Gut gemacht!«Mit plotzlichem Arger fugte er hinzu:»Wenn wir schon hier sind, wollen wir uns doch gleich mal nach weiteren,unschuldigen' Burgern umsehen.»

Lucy packte ihn unvermutet an den Rockaufschlagen und schurzte die Lippen, um ihm ins Gesicht zu spucken. Aber im nachsten Augenblick sah Bolitho nur nackte, strampelnde Beine und gewaltige Oberschenkel, als Stockdale die schreiende und fluchende Person die Stufen zur Stra?e hinunter trug. Ohne Umschweife steckte er ihren Kopf in einen Pferdetrog und hielt ihn mehrere Sekunden unter Wasser.

Als er sie loslie? und sie taumelnd nach Atem rang, sagte er:»Wenn du noch einmal so zu dem Leutnant sprichst, meine Schone, bekommst du meinen Dolch zwischen die Rippen, verstanden?«Dann nickte er Bolitho zu:»Alles in Ordnung, Sir!»

Dieser schluckte. Noch nie hatte er Stockdale so wutend erlebt.»Danke!«Er sah, wie sich seine Leute grinsend anstie?en, und kampfte um sein altes Selbstvertrauen.»Fangt an mit dem Durchsuchen!«Hinter ihm wurden die sechs Deserteure vorbeigefuhrt, einer von ihnen hielt sich den Kopf.

Aus einem Nachbarhaus schrie jemand:»La?t sie doch laufen, ihr Stinktiere!»

Bolitho trat ein und besah sich die umgesturzten Stuhle, leeren Flaschen und verstreuten Kleidungsstucke. Es sah eher aus wie in einem Gefangnis als wie in einem Freudenhaus.