Harry Potter und der Stein der Weisen - Fritz Klaus. Страница 8
»Was ist das denn?«, fragte er Tante Petunia. Sie kniff die Lippen zusammen, wie immer, wenn er eine Frage zu stellen wagte.
»Deine neue Schuluniform«, sagte sie.
Harry warf noch einen Blick in die Schussel.
»Aha«, sagte er,»ich wu?te nicht, da? sie so na? sein mu?.«
»Stell dich nicht so dumm an«, keifte Tante Petunia. »Ich farbe ein paar alte Sachen grau fur dich. Die sehen dann genauso aus wie die der andern.«
Das bezweifelte Harry ernsthaft, er hielt es aber fur besser, ihr nicht zu widersprechen. Er setzte sich an den Tisch und versuchte nicht daran zu denken, wie er an seinem ersten Schultag in der Stonewall High aussehen wurde – vermutlich wie einer, der ein paar Fetzen alter Elefantenhaut trug.
Dudley und Onkel Vernon kamen herein und beide hielten sich beim Gestank von Harrys neuer Uniform die Nase zu. Onkel Vernon schlug wie immer seine Zeitung auf und Dudley knallte seinen Smelting-Stock, den er immer bei sich trug, auf den Tisch.
Die Klappe des Briefschlitzes quietschte und die Post klatschte auf die Turmatte.
»Hol die Post, Dudley«, sagte Onkel Vernon hinter seiner Zeitung hervor.
»Soll doch Harry sie holen.«
»Hol die Post, Harry.«
»Soll doch Dudley sie holen.«
»Knuff ihn mal mit deinem Smelting-Stock, Dudley.«
Harry wich dem Stock aus und ging hinaus, um die Post zu holen. Dreierlei lag auf der Turmatte: eine Postkarte von Onkel Vernons Schwester Marge, die Ferien auf der Isle of Wight machte, ein brauner Umschlag, der wohl eine Rechnung enthielt, und – ein Brief fur Harry.
Harry hob ihn auf und starrte auf den Umschlag. Sein Herz schwirrte wie ein riesiges Gummiband. Niemand hatte ihm je in seinem ganzen Leben einen Brief geschrieben. Wer konnte es sein? Er hatte keine Freunde, keine anderen Verwandten – er war nicht in der Bucherei angemeldet und hatte deshalb auch nie unhofliche Aufforderungen erhalten, Bucher zuruckzubringen. Doch hier war er, ein Brief, so klar adressiert, da? ein Fehler ausgeschlossen war:
Mr. H. Potter
Im Schrank unter der Treppe
Ligusterweg 4
Little Whinging
Surrey
Dick und schwer war der Umschlag, aus gelblichem Pergament, und die Adresse war mit smaragdgruner Tinte geschrieben. Eine Briefmarke war nicht draufgeklebt.
Mit zitternder Hand drehte Harry den Brief um und sah ein purpurnes Siegel aus Wachs, auf das ein Wappenschild eingepragt war: ein Lowe, ein Adler, ein Dachs und eine Schlange, die einen Kreis um den Buchstaben »H« schlossen.
»Beeil dich, Junge!«, rief Onkel Vernon aus der Kuche. »Was machst du da drau?en eigentlich, Briefbombenkontrolle?« Er gluckste uber seinen eigenen Scherz. Harry kam in die Kuche zuruck, den Blick unverwandt auf den Brief gerichtet. Er reichte Onkel Vernon die Rechnung und die Postkarte, setzte sich und begann langsam den gelben Umschlag zu offnen.
Onkel Vernon ri? den Brief mit der Rechnung auf, schnaubte vor Abscheu, und uberflog die Postkarte.
»Marge ist krank«, teilte er Tante Petunia mit. »Hat eine faule Wellhornschnecke gegessen… «
»Dad!«, sagte Dudley plotzlich. »Dad, Harry hat etwas!«
Harry war gerade dabei, den Brief zu entfalten, der aus demselben schweren Pergament bestand wie der Umschlag, als Onkel Vernon ihm das Blatt aus der Hand ri?.
»Das ist fur mich!«, rief Harry und versuchte Onkel Vernon den Brief wegzuschnappen.
»Wer sollte dir denn schreiben?«, hohnte Onkel Vernon, schuttelte das zusammengefaltete Blatt mit einer Hand auseinander und begann zu lesen. Sein Gesicht wechselte schneller von Rot zu Grun als eine Verkehrsampel. Und es blieb nicht bei Grun. Nach ein paar Sekunden war es graulich-wei? wie alter Haferschleim.
»P-P-Petunia!«, stie? er keuchend hervor.
Dudley grabschte nach dem Brief, um ihn zu lesen, aber Onkel Vernon hielt ihn hoch, so da? er ihn nicht zu fassen bekam. Tante Petunia nahm ihn neugierig in die Hand und las die erste Zeile. Einen Moment lang sah es so aus, als wurde sie in Ohnmacht fallen. Sie griff sich an den Hals und gab ein wurgendes Gerausch von sich.
»Vernon! Ach du lieber Gott – Vernon!«
Sie starrten einander an, als hatten sie vergessen, da? Harry und Dudley immer noch in der Kuche waren. Dudley war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden. Mit dem Smelting-Stock versetzte er seinem Vater einen kurzen schmerzhaften Hieb auf den Kopf
»Ich will diesen Brief lesen«, sagte er laut.
»Ich will ihn lesen«, sagte Harry wutend,»es ist namlich meiner.«
»Raus hier, beide«, krachzte Onkel Vernon und stopfte den Brief in den Umschlag zuruck.
Harry ruhrte sich nicht vom Fleck.
»ICH WILL MEINEN BRIEF!«. rief er.
»La? mich sehen!«, verlangte Dudley.
»RAUS!«, brullte Onkel Vernon, packte Harry und Dudley am Genick, warf sie hinaus in den Flur und knallte die Kuchentur hinter ihnen zu. Prompt lieferten sich Harry und Dudley einen erbitterten, aber stummen Kampf darum, wer am Schlusselloch lauschen durfte. Dudley gewann, und so legte sich Harry, die Brille von einem Ohr herabhangend, flach auf den Bauch und lauschte an dem Spalt zwischen Tur und Fu?boden.
»Vernon«, sagte Tante Petunia mit zitternder Stimme,»schau dir die Adresse an – wie konnen sie denn nur wissen, wo er schlaft? Sie beobachten doch nicht etwa unser Haus?«
»Beobachten – spionieren – vielleicht folgen sie uns«, murmelte Onkel Vernon verwirrt.
»Aber was sollen wir tun, Vernon? Sollen wir vielleicht antworten? Ihnen sagen, wir wollen nicht -«
Harry konnte Onkel Vernons glanzende schwarze Schuhe die Kuche auf und ab schreiten sehen.
»Nein«, sagte er endlich. »Nein, wir tun so, als ob nichts ware. Wenn sie keine Antwort bekommen… Ja, das ist das Beste… Wir tun gar nichts… «
»Aber -«
»Ich will keinen davon im Haus haben, Petunia! Als wir ihn aufnahmen, haben wir uns da nicht geschworen, diesen gefahrlichen Unsinn auszumerzen?«
Als Onkel Vernon an diesem Abend vom Buro zuruckkam, tat er etwas, was er nie zuvor getan hatte: er besuchte Harry in seinem Schrank.
»Wo ist mein Brief?«, sagte Harry, kaum hatte sich Onkel Vernon durch die Tur gezwangt. »Wer schreibt an mich?«
»Niemand. Er war nur versehentlich an dich adressiert sagte Onkel Vernon kurz angebunden. »Ich habe ihn verbrannt.«
»Es war kein Versehen«, rief Harry zornig,»mein Schrank stand drauf«
»RUHE!«, schrie Onkel Vernon, und ein paar Spinnen fielen von der Decke. Er holte ein paar Mal tief Luft und zwang dann sein Gesicht zu einem recht schmerzhaft wirkenden Lacheln.
»Ahm -ja, Harry – wegen dieses Schranks hier. Deine Tante und ich haben daruber nachgedacht… Du wirst allmahlich wirklich etwas zu gro? dafur… Wir meinen, es ware doch nett, wenn du in Dudleys zweites Schlafzimmer ziehen wurdest.«
»Warum?«, sagte Harry.
»Keine dummen Fragen!«, fuhr ihn der Onkel an. »Bring dieses Zeug nach oben, aber sofort.«
Das Haus der Dursleys hatte vier Schlafzimmer: eines fur Onkel Vernon und Tante Petunia, eines fur Besucher (meist Onkel Vernons Schwester Marge), eines, in dem Dudley schlief, und eines, in dem Dudley all seine Spielsachen und die Dinge aufbewahrte, die nicht mehr in sein erstes Schlafzimmer pa?ten. Harry mu?te nur einmal nach oben gehen und schon hatte er all seine Sachen aus dem Schrank in das neue Zimmer gebracht. Er setzte sich aufs Bett und lie? den Blick kreisen. Fast alles hier drin war kaputt. Die einen Monat alte Videokamera lag auf einem kleinen, noch funktionierenden Panzer, den Dudley einmal uber den Hund der Nachbarn gefahren hatte. in der Ecke stand Dudleys erster Fernseher. Als seine Lieblingssendung abgesetzt wurde, hatte er den Fu? durch den Bildschirm gerammt. Auch ein gro?er Vogelkafig stand da, in dem einmal ein Papagei gelebt hatte, den Dudley in der Schule gegen ein echtes Luftgewehr getauscht hatte. Es lag mit durchgebogenem Lauf auf einem Regal, denn Dudley hatte sich darauf niedergelassen. Andere Regale standen voller Bucher. Das waren die einzigen Dinge in dem Zimmer, die aussahen, als waren sie nie angeruhrt worden.