Der Schwarm - Schatzing Frank. Страница 39
»Dieser auch?«, fragte eine Journalistin.
»Nein. In den letzten Jahren hatten wir hier zunehmend Tiere, deren Immunsystem zusammengebrochen war. Sie starben an Infektionen. J-19 ist 22 Jahre alt geworden. Kein junges Tier mehr, aber im Durchschnitt bringen es gesunde Orcas auf 30 Jahre. Also ein Tod vor der Zeit, und nirgendwo sind Verletzungen eines Kampfes zu sehen. Ich tippe auf eine bakteriologische Infektion.«
Anawak trat einen Schritt vor.
»Wenn Sie wissen wollen, woher so was kommt, konnen wir Ihnen auch das erklaren«, sagte er, bemuht um einen sachlichen Tonfall. »Es gibt eine ganze Reihe toxikologischer Untersuchungen, und sie zeigen, dass die Orcas vor British Columbia durchweg verseucht sind mit PCB und anderen Umweltgiften. Dieses Jahr haben wir in Orca-Fettgewebe uber 150 Milligramm PCB nachgewiesen. Kein menschliches Immunsystem hatte dagegen den Hauch einer Chance.«
Die Gesichter der Leute wandten sich ihm zu. Er sah die Mischung aus Betroffenheit und Erregtheit in ihren Augen. Soeben hatte er ihnen eine Story geliefert. Er wusste, dass sie die Truppe jetzt im Griff hatten.
»Das Schlimme an diesen Giften ist, dass sie fettloslich sind«, sagte er. »Das hei?t, sie werden mit der Muttermilch an die Kalber weitergegeben. Menschliche Babys kommen auf die Welt und haben AIDS, und wir berichten daruber und sind entsetzt. Weiten Sie Ihr Entsetzen bitte aus und berichten Sie auch uber das, was Sie hier vorgefunden haben. Kaum eine Spezies auf der Welt ist so vergiftet wie die Orcas.«
»Dr. Anawak.« Ein Journalist rausperte sich. »Was geschieht, wenn Menschen das Fleisch dieser Wale essen?«
»Sie nehmen einen Teil der Giftstoffe in sich auf.«
»Mit todlichen Folgen?«
»Auf lange Sicht — moglicherweise.«
»Ist es dann nicht so, dass Unternehmen, die hier bedenkenlos Giftstoffe ins Meer leiten, etwa die Holzindustrie, indirekt auch dafur verantwortlich sind, wenn Menschen erkranken und sterben?«
Ford warf ihm einen schnellen Blick zu. Anawak zogerte. Das war ein heikler Punkt. Naturlich hatte der Mann Recht, aber das Vancouver Aquarium versuchte, jede direkte Konfrontation mit der ansassigen Industrie zu vermeiden und stattdessen den Weg der Diplomatie zu gehen. Die wirtschaftliche und politische Elite von British Columbia als potenzielle Morderbande hinzustellen wurde die Fronten verharten, und er wollte Ford nicht in die Parade fahren.
»Auf jeden Fall belastet es die menschliche Gesundheit, kontaminiertes Fleisch zu essen«, antwortete er ausweichend.
»Das bewusst kontaminiert wurde von der Industrie.«
»Wir suchen diesbezuglich nach Losungen. Gemeinsam mit den Verantwortlichen.«
»Verstehe.« Der Journalist notierte etwas. »Ich denke speziell an die Menschen in Ihrer Heimat, Dr ….«
»Meine Heimat ist hier«, sagte Anawak schroff.
Der Journalist sah ihn verstandnislos an. Wie hatte er auch verstehen sollen? Er hatte wahrscheinlich einfach nur gut recherchiert.
»Das meine ich nicht«, sagte er. »Da, wo Sie herkommen …«
»In British Columbia wird nicht mehr sonderlich viel Walfleisch oder Robbenfleisch gegessen«, fiel ihm Anawak ins Wort. »Hingegen gibt es starke Vergiftungserscheinungen bei den Bewohnern am Polarkreis. In Gronland und Island, in Alaska und weiter im Norden, in Nunavut, aber naturlich auch in Sibirien, Kamchatka und auf den Aleuten, uberall dort also, wo Meeressauger zur taglichen Nahrung beitragen. Das Problem ist weniger, wo die Tiere vergiftet werden. Das Problem ist, dass sie wandern.«
»Glauben Sie, die Wale sind sich der Vergiftungen bewusst?«, fragte ein Student.
»Nein.«
»Aber Sie sprechen in Ihren Publikationen von einer gewissen Intelligenz. Wenn die Tiere begreifen wurden, dass mit ihrer Nahrung etwas nicht stimmt …«
»Menschen rauchen, bis man ihnen die Beine amputiert oder sie an Lungenkrebs sterben. Sie sind sich der Vergiftung durchaus bewusst und tun es trotzdem, und Menschen sind eindeutig intelligenter als Wale.«
»Wie konnen Sie da so sicher sein? Vielleicht ist es genau umgekehrt.«
Anawak seufzte. So freundlich wie moglich sagte er: »Wir mussen Wale als Wale sehen. Sie sind hoch spezialisiert, aber es ist genau diese Spezialisierung, die sie auch einengt. Ein Orca ist ein lebender Torpedo mit idealer Stromlinienform, aber dafur fehlen ihm Beine, Greifhande, er verfugt uber keine Mimik und nicht uber bipolares Sehen. Das Gleiche gilt fur Delphine, Tummler, fur jede Art von Zahnwal oder Bartenwal. Es sind keine Beinahe-Menschen. Orcas sind vielleicht kluger als Hunde, Belugas so intelligent, dass sie sich ihrer Individualitat bewusst sind, und Delphine besitzen ohne Zweifel ein einzigartiges Gehirn. Aber fragen Sie sich bitte, was die Tiere letzten Endes damit vollbringen. Fische bewohnen den gleichen Lebensraum wie Wale und Delphine, ihre Lebensweise ist vielfach ahnlich, und dennoch kommen sie mit einem viertel Fingerhut Neuronen aus.«
Beinahe war Anawak froh, als er den leisen Summton seines Handys horte. Er gab Fenwick ein Zeichen, mit der Autopsie fortzufahren, ging ein Stuck abseits und meldete sich.
»Ah, Leon«, sagte Shoemaker. »Kannst du dich loseisen da, wo du gerade bist?«
»Vielleicht. Was gibt’s denn?«
»Er ist wieder da.«
Anawaks Wut stieg ins Ma?lose. Als er wenige Tage zuvor ubersturzt nach Vancouver Island zuruckgekehrt war, hatten sich Jack Greywolf und seine Seaguards schon wieder verzogen und zwei Bootsladungen verargerter Touristen hinterlassen, die sich lautstark daruber beschwerten, wie Vieh fotografiert und angestarrt worden zu sein. Es war Shoemaker mit Ach und Krach gelungen, die Leute zu beruhigen. Einige hatte er zu einer kostenlosen zweiten Fahrt einladen mussen. Danach schienen die Wogen geglattet. Dennoch hatte Greywolf furs Erste erreicht, was er wollte. Er hatte fur Unruhe gesorgt.
Bei Davies waren sie die Moglichkeiten durchgegangen. Sollten sie gegen die Umweltschutzer vorgehen oder sie ignorieren? Offizielle Wege zu beschreiten hatte gehei?en, ihnen ein Forum zu bereiten. Seriosen Organisationen waren Leute wie Greywolf ebenso ein Dorn im Auge wie den Whale Watchers, aber am Ende stand immer ein Prozess, der einer ohnehin uninformierten Offentlichkeit verzerrte Bilder liefern wurde. Im Zweifel waren viele geneigt, mit Greywolfs Parolen zu sympathisieren.
Inoffiziell hatten sie sich auf eine handfeste Auseinandersetzung einlassen konnen. Wohin Auseinandersetzungen mit Greywolf fuhrten, zeigten seine diversen Vorstrafen, aber es lag an ihnen, sich davon einschuchtern zu lassen oder nicht. Es war nur wenig hilfreich. Sie hatten genug anderes zu tun, und vielleicht belie? es Greywolf ja bei dem einen Zwischenfall.
Also hatten sie beschlossen, ihn zu ignorieren.
Vielleicht, dachte Anawak, wahrend er das kleine Motorboot entlang der Kuste uber den Clayoquot Sound steuerte, war das der Fehler gewesen. Moglicherweise hatte es Greywolfs Geltungssucht Genuge getan, wenn sie ihm wenigstens einen Brief geschrieben hatten, um ihr Missfallen auszudrucken. Etwas, das ihm signalisierte, dass man ihn zur Kenntnis genommen hatte.
Sein Blick suchte die Meeresoberflache ab. Das Boot raste dahin, und er wollte nicht riskieren, Wale zu erschrecken oder gar zu verletzen Mehrmals sah er in der Ferne gewaltige Fluken, und einmal schnitten nicht weit von ihm schwarz glanzende Schwerter durch die Wellen. Wahrend der Fahrt sprach er uber Funk mit Susan Stringer auf der Blue Shark.
»Was machen die Typen?«, fragte er. »Werden sie handgreiflich?«
Es knackte im Funkgerat.
»Nein«, sagte Stringers Stimme. »Sie machen Fotos, so wie letztes Mal, und sie beschimpfen uns.«
»Wie viele sind es?«
»Zwei Boote. Greywolf und noch jemand in dem einen, drei weitere im anderen. — Himmel! Jetzt fangen sie auch noch an zu singen.«
Ein rhythmisches Gerausch drang schwach durch das Rauschen des Funkgerats.